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30.04.2010, Bilder aus der Prollgosse oder Krawallbrüder, Riot Company, Soifass und Support in Leipzig/Markkleeberg (24.04.2010)

Abteilung Ticket und Merch:







Eventpics:



















































Noch paar bewegte Bilder gibt es dank Claudia's Stuntkünsten auch zu sehen.



26.04.2010, Bilder vom Hardcoreabend im Bunker Chemnitz (23.04.2010)





















20.03.2010, Leipziger Buchmesse und eine Liebesbekundung an meine verschiedene Autorin

Wir waren dann mal weg. Also in Leipzig zur Buchmesse mit Gratistickets für Kostümvorführer. Ich bin als Negativvariante meiner selbst durch die Hallen geschritten und habe manchmal durch die Cam geguckt. Wenn ich nicht gerade Frau Karrenbauer lauschte, die über eine Leinwand Vorsorgeinformationen für Darmgeschädigte von sich gab, während davor die Leute ihren Kuchen mampften.
Nina Hagen hat alle heilig gesprochen, mit Sicherheit auch Union Berlin. Andere sprachen fremdländisch und ich hätte gern gewusst, ob die Anwesenden dazu chillten oder zuhörten. Auf alle Fälle war es ein Festival der Flyer und kurzen Röcke, tendenziell etwas für Japaner mit Hang zu Schulmädchenexperimenten.
Bevor ich hier noch mit mir selbst kopuliere, biete ich als Unterfütterung für den Bildersalat einen eigenhändig abgeschriebenen Text an. Wer's liest, kann Spaß haben. Weitläufiger Bezug zu Zetteln, Literatur und monströsen Texten ist geboten. Außerdem hat ihn meine Zweitfrau geschrieben. Danke nachträglich. Sie hat mich zum Witwer gemacht und ich mache mich jetzt besser aus dem Staub…


Der Besuch, den Heiner gemeinsam mit Dille seinem Vater abstattete, war keineswegs dazu angetan, ihn optimistischer zu stimmen. Obwohl er eine Unterredung mit seinem Vater angepeilt hatte, ließ es Heinrich Wurbs, der einen wirren, unwirschen und unansprechbaren Eindruck machte, von vornherein nicht zu dieser Unterredung kommen. Kaum dass er Heiner und Dille, die er nicht vermisst zu haben schien, begrüßt hatte, hastete er mit seinem ausgetretenen linken Hausschuh am rechten Fuß und mit seinem ausgetretenen rechten Hausschuh am linken Fuß in einem mit Fettspritzern besprenkelten Winteranzug und mit weit in den Nacken hineingewachsenen, schütteren Haaren, ohne sich bei seinem Sohn und seiner Schwiegertochter auch nur nach deren Befinden erkundigt zu haben, auf der Suche nach seiner Lesebrille vom Keller zum Dachgeschoß und vom Dachgeschoß zum Keller seiner Villa, in der trotz der sommerlichen Witterung die Heizung auf Hochtouren lief. Selbst die Toiletten, die Garage, den Geräteschuppen und die Ankleidekabine in der Nähe des Swimmingpools, in dem man nicht schwimmen, sondern bestenfalls auf und ab spazieren konnte, durchkämmte er.



Heiner, der ihn, gefolgt von Dille, bei der Suche nach der Lesebrille, wenn auch nur recht halbherzig, unterstützte, mühte sich zwar, herauszufinden, aus welchem Grund die Heizung bei einer Außentemperatur von fast dreißig Grad auf Hochtouren lief. Auch fragte er seinen Vater, warum sich im Swimmingpool kein Tropfen Wasser befand.
Aber Heinrich Wurbs stellte die Fragen seines Sohnes mit einem einzigen, unwiderlegbaren Satz der Indiskutabiliät anheim.



Es gibt Schlimmeres, sagte er zu Heiner, der im höchsten Grad darüber beunruhigt war, dass in der Villa keine einzige Uhr mehr tickte, dafür aber sämtliche Wasserhähne tropften, dass die meisten Lampen beim Einschalten dunkel blieben, während die meisten Kochplatten des Elektroherds nicht kalt wurden, dass die Tapetenenden von den Wänden mancher Zimmer wie Eselsohren abstanden, dass die Terrasse mit zerschellten Ziegeln besät war, die offenkundig im Frühjahr mit dem Schnee vom Dach der Villa gerutscht waren, und dass unter dem Rasen, auf dem das Gras dem Unkraut längst das Feld geräumt hatte, wahre Maulwurfscharen labyrinthartige Gänge gruben.



Die Verrottung der Villa machte Heiner weitaus mehr zu schaffen als die Verwahrlosung seines Vaters, der auf seinen Hinweis, dass er an den Füßen jeweils den falschen Hausschuh trage und dass sein Winteranzug mit Fettflecken besprenkelt sei, erneut nichts anderes als den Satz: Es gibt Schlimmeres zu erwidern wusste. Während Heiner nach der Lesebrille suchte, bekniete er, angesichts der durch pure Vernachlässigung entstandenen Schäden in der Villa aus dem Häuschen geratend, seinen Vater, der sich ineinemfort mit einem Geschirrtuch den Schweiß von der Stirn und Nacken wischte, nahezu inbrünstig, ihm zu erlauben, diese Schäden, ehe sie irreparabel wurden, eigenhändig zu beheben. Doch sein Erblasser, der sich seit seiner Pensionierung nurmehr für den Sinn des Daseins interessierte, den er durch die Lektüre eines Werks über die Entstehung des Universums zu ergründen trachtete, untersagte ihm schlichtweg, irgendwelche Reparaturarbeiten auszuführen.



Sie würden mich nur beim Lesen stören, meinte er, ehe er den Kopf in die Richtung der Haustür drehte, die in diesem Augenblick aufgeschlossen wurde.



Wer die Villa betrat, war keine andere als Heinrich Wurbs' neue Haushälterin, eine gewisse Erna Bünzel, deren draller Busen, deren draller Bauch und deren dralles Hinterteil ihr giftgrünes Kleid zu sprengen drohten. Ihre Haare waren so platinblond gefärbt, dass sie fast weiß wirkten. Ihr Mund war bonbonrosa bemalt. In ihrem Blick fochten Gutmütigkeit, Pfiffigkeit und List um die Vormachtstellung. Offensichtlich kam sie vom Einkaufen zurück, denn sie trug zwei Tragetaschen, die sie jetzt, um Heiner und Dille begrüßen zu können, auf dem Fußboden abstellte.



Sie suchen wohl wieder ihre Lesebrille, Herr Doktor, erkundigte sie sich, angestrengt bemüht, hochdeutsch zu sprechen, bei ihrem Brotgeber.
Heinrich Wurbs nickte mit einem verstörten Gesichtsausdruck.
Bevor ich einkaufen gegangen bin, hatten wir sie ja gerade wieder einmal gefunden, entgegnete Frau Bünzel.
Sind sie sicher, dass ich sie heute schon einmal verlegt habe, fragte Heinrich Wurbs seine Haushälterin.



Aber wir haben sie doch vorhin gemeinsam im ganzen Haus gesucht, erwiderte diese.
Daran kann ich mich, offen gesagt, nicht erinnern, gestand Heinrich Wurbs seiner Haushälterin.
Es ist doch nichts dabei, wenn wir die Lesebrille noch einmal suchen, sagte Frau Bünzel, ehe sie anstelle einer Suche eine regelrechte Fahndung nach der Lesebrille ihres Brotgebers startete, dessen Orientierungssinn augenscheinlich gleichermaßen in Mitleidenschaft gezogen war wie sein Erinnerungsvermögen.
Während er sich nicht nur in nahezu jeder zweiten Räumlichkeit seiner eigenen Villa erkundigte, wo man sich hier eigentlich befinde, sondern auch alle paar Minuten wissen wollte, was man momentan suchte, trieb Frau Bünzel ihre Fahndungsaktion, die Heiner über die Geistesverfassung seines Erblassers mehr offenbarte, als er sich zunächst eingestehen wollte, mit dem Instinkt eines Spürhundes voran.
Zwar fand sie die gesuchte Lesebrille nicht auf Anhieb. Dafür entdeckte sie jedoch einen schmutzigen Pyjama ihres Brotgebers im Weinkellerregal statt im Wäschebeutel, eine Zahnbürste im Besteckkasten statt im Zahnputzbecher und einen Herrenknirps statt im Schirmständer in der Tiefkühltruhe, in der Heinrich Wurbs zur Entgeisterung seines Sohnes und seiner Schwiegertochter auch einen Feldstecher, zwei Kleiderbügel, ein Schachbrett und einen Stadtplan von N. hatte einfrieren lassen.



Dass Frau Bünzel im Arbeitszimmer von Heinrich Wurbs in einem Kugelschreiberständer auf dem Schreibtisch, der mit langen, wohlgeordneten, mysteriös anmutenden Notizzettelreihen bedeckt war, auf einen seit einiger Zeit vermissten Kartoffelschäler stieß, überraschte Heiner mittlerweile nur noch in geringfügigem Maße. Es überraschte ihn auch nicht sonderlich, dass die Haushälterin die gesuchte Lesebrille schließlich im Brotkorb in der Speisekammer fand.
Das einzige, was auf Heiner recht enervierend wirkte, war die Tatsache, dass sein Vater, kaum dass er sich seine Lesebrille, um sie nicht erneut zu verlegen, aufgesetzt hatte, feststellte, dass er außer der Brille auch das Werk über die Entstehung des Universums verlegt hatte, das er, weil er, wenn er am Ende angelangt war, längst vergessen hatte, wovon am Anfang die Rede gewesen war, immer wieder von vorn zu lesen begann.
Während Frau Bünzel, die sich offenkundig längst darauf eingestellt hatte, dass ihre Haupttätigkeit bei Herrn Doktor Wurbs im Suchen verlegter Sachen bestand, mit einer bemerkenswerten Seelenruhe gemeinsam mit ihrem Brotgeber, den sie immer wieder daran erinnern musste, was gerade gesucht wurde, eine Fahndungsaktion nach dem Werk über die Entstehung des Universums startete, nutzte Heiner die Gelegenheit, um die mysteriös anmutenden Notizzettelreihen, die den Schreibtisch seines Vaters bedeckten, zu studieren.



Tatsächlich gaben ihm diese sorgsam geordneten Notizzettelreihen, mit deren Hilfe sein Vater seiner zunehmenden Vergesslichkeit beizukommen suchte, nicht weniger zu denken als der Umstand, dass seit neuestem in der väterlichen Villa Dinge an den absurdesten Orten aufbewahrt wurden. Denn diesen Notizzettelreihen war nicht nur abzulesen, dass sein Vater zum Friseur zu gehen beabsichtigte, dass er vergessen hatte, zum Friseur zu gehen und dass er vergessen hatte, dass er vergessen hatte zum Friseur zu gehen. Die Notizzettelreihen kündeten zudem davon, dass sein Vater eine bestimmte Gärtnerei mit der Bepflanzung des Grabes der Regina Wurbs zu beauftragen vorhatte, dass er vergessen hatte, ob er diese Gärtnerei mit der Grabbepflanzung beauftragt hatte oder nicht, und dass er die besagte Gärtnerei, weil er sich nicht mehr entsinnen konnte, ob er sie bereits beauftragt hatte, nicht beauftragen konnte, weil er sich, falls er sie schon beauftragt hatte, mit seiner Vergesslichkeit ins Gerede bringen würde.
Auch konnte Heiner den Notizzettelreihen entnehmen, dass die Vergesslichkeit seinen Vater obendrein dazu veranlasst hatte, sich weil er vergessen hatte, dass er nicht vergessen hatte, sich einen Rasenmäher zu kaufen, nach dem Erwerb des ersten Rasenmähers einen zweiten Rasenmäher und nach dem Erwerb des zweiten Rasenmähers einen dritten Rasenmäher zugelegt hatte. UNTER KEINEN UMSTÄNDEN EINEN VIERTEN RASENMÄHER KAUFEN, lautete die Notiz auf einem mit drei Ausrufezeichen versehenen Zettel.



Heiner überflog gerade einen weiteren Zettel, auf den sein Vater geschrieben hatte: GESTERN BIN ICH ZU MEINEM NAMENSSCHILD AM GARTENTORPFOSTEN GEGANGEN, UM MICH ZU VERGEWISSERN, OB ES ZUTRIFFT; DASS ICH HEINRICH WURBS HEISSE, als er seinen Erblasser die Kellertreppe hinaufsteigen hörte. Hastig verließ er das Arbeitszimmer und stellte sich, während Heinrich Wurbs, mit der Lesebrille auf der Nase und dem Werk über die Entstehung des Universums in der Hand, Seite an Seite mit Frau Bünzel auftauchte, neben Dille in der Diele in Positur.
Zu seiner Verwirrung starrte sein Vater ihn und Dille an, als wären sie Spukgestalten.
Was in aller Welt habt ihr beide hier in meinem Haus zu suchen, stieß er voller Schroffheit hervor.
Erinnerst du dich nicht daran, dass du uns zum Kaffeetrinken eingeladen hast, fragte Heiner seinen Vater.
Daran kann ich mich nicht erinnern, meinte der und warf, als bezweifle er, dass sein Sohn die Wahrheit sagte, seiner Haushälterin einen fragenden Blick zu.
Aber ich habe doch eigens auf ihre Anweisung hin den Kaffeetisch gedeckt und Kuchen besorgt, Herr Doktor, sagte diese.



An eine solche Anweisung kann ich mich ebenfalls nicht entsinnen, entgegnete Heinrich Wurbs, ehe er, meinend, dass er jetzt keine Lust zum Kaffeetrinken hätte, mit seinem ausgetretenen linken Hausschuh am rechten Fuß und mit seinem ausgetretenen rechten Hausschuh am linken Fuß in seinem speckigen Winteranzug, den zur Reinigung zu bringen er als zu umständlich bezeichnete, und seinen tief in den Nacken hineingewachsenen Haaren, die kundtaten, dass er noch immer nicht beim Friseur gewesen war, in das höllisch heiße Wohnzimmer schlurfte, wo er mit dem schweißesfeuchten Geschirrtuch um den Hals auf einem dem Umfang seines Gesäßes entsprechenden dunklen Fleck auf dem Sofa mit dem Rücken zur Panoramascheibe, die den Ausblick auf seinen verwilderten Garten bot, Platz nahm, um sich, einzig und allein darauf bedacht, seinen Daseinssinn zu ergründen, in das Werk über die Entstehung des Universums, die ihm so unsinnig erschien, dass er in ihr nichts anderes als eine gigantische Unfugstiftung zu sehen vermochte, zu vertiefen.
Mit betretenen Mienen standen Heiner und Dille gemeinsam mit Frau Bünzel, die ihnen zuflüsterte, dass man den Herrn Doktor eben so nehmen müsse, wie er sei, schwitzend in der höllisch heißen Diele. Nur unwillig ließen sie sich von der Haushälterin den mit einem Goldrandservice und vergoldeten Bestecken gedeckten Kaffeetisch zeigen, auf dessen Mitte eine Goldrandtortenplatte mit den verschiedensten Tortensorten platziert war.
Ich werde ihnen den Kuchen einpacken, sagte Frau Bünzel zu Dille.
Doch diese schüttelte den Kopf.



Wir sind nicht wegen des Kuchens hierhergekommen, erwiderte sie, nachdem sie Frau Bünzel zum Abschied die Hand hingestreckt hatte, und sie stakste feldwebelhaft und aufgebracht zur Haustür, ohne auf Heiner zu warten, der in der irrigen Auffassung, er könnte derart wohlfeil eine standesbewußte Kleinbürgerin bestechen, der Haushälterin seines Vaters einen Fünfzig-Mark-Schein zusteckte.
Obwohl Frau Bünzel diesen Geldschein kommentarlos in den Ausschnitt ihres giftgrünen Kleides schob, wurde es Heiner bereits im Verlauf der folgenden Wochen klar, dass diese urwüchsige und gewitzte Person mit einem Fünfzig-Mark-Schein nicht zu bestechen war. Er hatte einfach nicht damit gerechnet, dass sich Frau Bünzel glücklich pries, die Hausangestellte eines so wunschlos unglücklichen Herrn wie die des Herrn Doktor Wurbs sein zu dürfen, der schon zufrieden war, wenn ihm am Morgen ein Joghurt, am späten Vormittag eine Grapefruit, am Mittag außer einer Fertigsuppe ein Pfannkuchen, am Nachmittag ein Kännchen coffeinfreier Kaffee vorgesetzt und dann und wann ein Oberhemd gebügelt oder ein Knopf an den Hosenbund genäht wurde.
Wann immer Heiner die Haushälterin zu der Zeit, da sein Vater ein Mittagsnickerchen hielt, in der Absicht, sie über ihren Brotgeber auszuhorchen, anrief, weigerte sich Frau Bünzel zwar nicht unumwunden, sich aushorchen zu lassen. Aber sie achtete stets darauf, dass Heiner den der Geisteszustand seines Erblassers mit dem größten Misstrauen und dem größten Unbehagen erfüllte, ausschließlich das erfuhr, was er sich ohnehin denken konnte.



Frau Bünzel unterrichtete ihn lediglich darüber, dass sich der Herr Doktor den ganzen Tag lang der Daseinssinnergründung gewidmet hätte, wenn er nicht wieder einmal damit beschäftigt gewesen sei, gemeinsam mit ihr, Erna Bünzel, entweder seine Lesebrille oder das Werk über die Entstehung des Universums in der ganzen Villa zu suchen. Ansonsten konnte der dürftige Fünfzig-Mark-Schein Frau Bünzel keineswegs zur Illoyalität verleiten. Vielmehr zwang das Verhalten der Haushälterin Heiner, der, schon seiner verrottenden Erbschaft wegen auf dem laufenden bleiben zu müssen meinte, dazu seinen Vater, der ihm neuerdings bei jedem Besuch, so als gelte es eine Gebühr zu entrichten, statt ihm die Hand zu geben, gleich bei seiner Ankunft zwei oder drei Einhundert-Mark-Scheine hinzustrecken pflegte, immer wieder aufzusuchen, um sich von ihm nicht etwa aus Bosheit, sondern aus einem bodenlosen Desinteresse für ein Stündchen ignorieren zu lassen.
Du ahnst nicht, wie sehr mir dies gegen den Strich geht, pflegte Heiner, sobald es wieder einmal an der Zeit war, bei seinem Vater das Geld zu kassieren, das ihn die Darlehen für sein Eigenheim und für seine Einliegerwohnung abbezahlen half, zu Dille zu sagen, ehe er zur Villa seines Erblassers aufbrach.
Die Worte und Sätze, die im Verlauf derartiger Kassiervisiten zwischen Heinrich Wurbs, der verzweifelt mit seinem Gehirn seine Gehirnschäden zu bekämpfen trachtete, und dessen Sohn, den die Schäden seines künftigen Erbes weitaus mehr schockierten als die Gehirnschäden seines Erblassers, gewechselt wurden, hatte Seltenheitscharakter.
Meist saß Heiner seinem Vater schweigend gegenüber und sah ihm beim Lesen des mehr und mehr zerfleddernden Werkes über die Entstehung des Universums zu.



Wenn sein Vater ausnahmsweise einmal etwas äußerte, so tat er dies so unvermittelt und aus dem Zusammenhang gerissen, dass ihm Heiner nur in den seltensten Fällen etwas zu erwidern wusste. Einmal erkundigte sich Heinrich Wurbs bei seinem Sohn, ob er gelesen hätte, dass man den siebten Ring des Saturn entdeckt hätte. Ein anderes Mal wollte Heinrich Wurbs von seinem Sohn wissen, ob ihm bekannt sei, dass seine Großmutter väterlicherseits und ihre zwei Schwestern im Irrenhaus gestorben seien. Ein weiteres Mal fragte Heinrich Wurbs seinen Sohn mit einer gewissen Verschämtheit nach dessen Vornamen.
Ich habe nämlich vergessen, wie wir dich genannt haben, sagte er.
Ihr habt mich Heiner genannt, entgegnete Heiner, den die Scham seines Vaters seinerseits mit Scham erfüllte.
Konsterniert verfolgte er, wie sich sein Vater auf einem Notizzettel notierte, dass sein Sohn Heiner heiße.



Seine Zettelreihen, die immer länger und umfangreicher wurden, bedeckten jetzt außer seinem Schreibtisch auch den Rauchtisch im Wohnzimmer und den Esstisch im Speisezimmer. Weil ihm, wenn er etwas aß, kaum dass er seinen Teller geleert hatte, auch schon entfallen war, was er sich einverleibt hatte, notierte er, ehe er zu essen begann, das Gericht, das er zu verzehren er im Begriffe war. Er notierte sich auch jedes Mal, ehe er sich die Zähne putzte, dass er soeben Anstalten traf, sich die Zähne zu putzen. Das gleiche tat er auch in Bezug aufs Rasieren, Kämmen, Ankleiden. Sogar die Tatsache, dass er beabsichtigte, zum Briefkasten zu gehen, und die Tatsache, dass er zum Briefkasten gegangen war, wurden von ihm schriftlich festgehalten. Dass er über die Tageszeiten, zu denen er die ihm von seinem Hausarzt verordneten Tabletten gegen seinen Gedächtnisschwund, der auf Durchblutungsstörungen in seinem Gehirn zurückzuführen war, eingenommen hatte, Buch führte, verstand sich nach Heiners Dafürhalten fast von selbst.



Aber diese Maßnahmen nutzten seinem Vater schon insofern wenig, als er oft genug die einzige Waffe in seinem aussichtslosen Kampf gegen seine Vergesslichkeit nämlich die Zettel, vergaß. Denn mit den Zetteln vergaß er, die Tabletten gegen seine Vergesslichkeit einzunehmen, zum Briefkasten zu gehen, sich anzukleiden, zu kämmen, zu rasieren, die Zähne zu putzen. Mit den Zetteln vergaß er, was er vergessen hatte. Selbst seine Vergesslichkeit vergaß er. Zwar verstreute er, um zu verhindern, dass er die Zettel vergaß, in der ganzen Villa Zettel, auf denen zu lesen stand: ZETTEL NICHT VERGESSEN. Doch wenn er einen von diesen Zetteln zu Gesicht bekam, geschah es nicht selten, dass er mittlerweile vergessen hatte, was dieses ZETTEL-NICHT-VERGESSEN zu bedeuten hatte.



Findest du nicht auch, dass das, was ich da treibe, der blanke Aberwitz ist, fragte er seinen Sohn Heiner, der nicht den Mut aufbrachte, ihm die Wahrheit zu sagen.
Mir erscheint es ganz vernünftig, meinte er.
Wenn ein Mensch in seinem ganzen Haus Zettel verstreut, auf denen zu lesen steht, dass er die Zettel, auf denen er sich vor jeder Mahlzeit notiert, was er zu verzehren im Begriffe ist, nicht vergessen soll, so hat das mit Vernunft nicht mehr das geringste zu tun, rief Heinrich Wurbs mit einer Verzweiflung, der sich Heiner nicht gewachsen fühlte.
Hastig verließ er die väterliche Villa.
Obwohl ihm Dille in den Ohren lag, drückte er sich mehrere Wochen lang vor einem erneuten Beisammensein mit seinem Erblasser. Erst als ihm seine Frau, die auf die Zuwendungen ihres Schwiegervaters, der sich trotz seiner Senilität darüber im klaren zu sein schien, dass ihn sein Sohn ausschließlich des Geldes wegen aufsuchte, nicht verzichten wollte, morgens, mittags und abends Verantwortungslosigkeit zur Last legte, beugte sich Heiner ihren Forderungen.



Kleinlaut vereinbarte er mit seinem Vater, der, weil ihm erneut der Vorname seines Sohnes entfallen war, meinte, er kenne keinen Heiner, telefonisch einen weiteren Besuchstermin.
Während er zur väterlichen Villa fuhr, war er zwar auf Unannehmlichkeiten vorbereitet, aber auf die Art und Weise, in der sein Erblasser dieses Mal auf sein Läuten an der Gartentorklingel reagierte, war er dennoch nicht gefasst.
Statt den elektronischen Gartentoröffner zu betätigen, riss sein Vater, der an diesem späten Nachmittag noch einen Pyjama trug, die Haustür auf und starrte ihn mit merkwürdig glasigen Augen an.
Ich brauche weder Bürsten noch Scheuerlappen von Blindenanstalten, rief er, bevor er die Haustür zuschlug, ohne seinen Sohn zuworte kommen zu lassen.
Nachdem dieser minutenlang wie ein Bittsteller vor dem geschlossenen Gartentor stehengeblieben war, stieg er in seinen Mercedes und fuhr auf dem kürzesten Weg zu seinem Eigenheim, um Dille möglichst rasch über den Geisteszustand seines Vaters Bericht zu erstatten.



Er scheint tatsächlich anstaltsreif zu sein, erklärte er, zuhause angelangt, seiner Frau, die sich bei ihm mit einem bohrenden Blick erkundigte, ob er etwa vorhätte, die Entmündigung seines Vaters in die Wege zu leiten.
Diese Absicht habe ich nicht geäußert, verteidigte sich Heiner, obwohl er im Verlaufe seiner Heimfahrt den Gedanken an eine solche Entmündigung, die für ihn und seine Familie die Lösung ihrer niederdrückenden finanziellen Probleme dargestellt hätte, in der Tat in Erwägung gezogen hatte.
Eine Entmündigung wäre jedenfalls ausgesprochen inhuman, meinte Dille so heuchlerisch, dass Heiner kurzfristig frischen Mut fasste.
Manchmal kann man es sich ganz einfach nicht leisten human zu sein, erwiderte er.
Manchmal kann man es sich allerdings auch ganz einfach nicht leisten, inhuman zu sein, meinte Dille.
Was willst du damit sagen, fragte Heiner, der die immer krasser zutage tretende Unaufrichtigkeit, die diesem Gespräch innewohnte, mehr und mehr irritierte.



Ich muss dir wohl nicht auseinandersetzen, dass wir mit einer Entmündigung deines Vaters in gewissen Kreisen dieser Stadt auf eine nicht wiedergutzumachende Weise ins Fettnäpfchen treten würden, stieß Dille ärgerlich hervor.
Zweifellos würden wir uns eine Menge Feinde machen, pflichtete ihr Heiner bei.
Wir würden uns nicht nur eine Menge Feinde machen: Die gesamte Hautevolee dieser Stadt brächten wir gegen uns auf, rief Dille.
Es ist weißgott ein Trauerspiel, dass man es sich mitunter nicht einmal leisten kann, inhuman zu sein, entgegnete Heiner mit einer Wehmut, die seine Gesichtszüge weich, ja verwaschen erscheinen ließ, ehe ihn zu seinem Entsetzen ein Hustenanfall am Weiterreden hinderte.
Am ganzen Leibe bebend vor Furcht, stürzte er ins Badezimmer und musterte sich mit schreckengeweiteten Augen minutenlang im Spiegel. Doch obwohl sein Gesicht nicht leichenhaft, sondern rot angelaufen war, meinte er darin Symptome eines vom Tode Gezeichneten zu entdecken.



Das sind die polychlorierten Biphenyle, sagte er sich, indem er sich mit dem festen Vorsatz, fortan mehr für seine durch die Lage seines Eigenheims gefährdete Gesundheit zu tun, vom Spiegel abwendete. Dank eines erneuten Hustenanfalls avancierte die Aufrechterhaltung seiner Gesundheit zu seinem eigentlichen Daseinssinn.

07.03.2010, Erzgebirgische Kunst- und Literaturtage in der Baldauf-Villa Marienberg

Bevor ich hier wieder einen aufgeblasenen Bericht ablege, gibt es Infos und paar Bilder und wer mit Gucken fertig ist, kann noch das neue AS-TV Video bekopfschütteln.
Nach Rücksprache mit Martin von Protector (Martin wohnt jetzt in Schweden) und einem Hin und Her mit Up- und Download des Songs "Golem" von der gleichnamigen Scheibe und dann noch dem Verbot aus Skandinavien auf keinen Fall eine uniformierte Modeikone aus den Dreißigern zu zeigen, der zu Kriegsbeginn meinte, dass alle Slawen Untermenschen seien und als die Russen vor Berlin standen plötzlich eine Erleuchtung hatte und im Kreise seiner Restfirma verkündete, dass ihm das Desaster nur mit Deutschen passieren konnte, weil sie feige sind und er doch lieber hätte auf Slawen zurückgreifen sollen, naja, also zu der Zeit hat er auch stundenlang im Bunker ein Bildnis von Friedrich des Großen angestarrt und brüllend Kompanien befehligt, die schon Monate vorher ausradiert worden sind…so war das…mit dem metrosexuellen Völkerkundler…
Hat aber nix mit "Golem" zu tun, "Golem" ist ein schwieriges Thema und filmisch kaum umsetzbar. Zumal ich knapp 150 Kurzsequenzen habe, ich hätte also alles oder nichts reinpacken können. So habe ich mich dann auf das Zeigen dramatischer Bilder, auf das Zeigen von Deppen, auf das Zeigen von Missgeschicken, auf das Zeigen von alten Bildern in Demutsgeste und in völliger Destruction (die haben übrigens im Gegensatz zu Protector eine Reunion durch und machen mit viel Feuer Bühnen unsicher)…also schaut rein und haltet euch die Ohren zu, die Ohren steif, oder die Augen zu und Augen auf…nach was auch immer.
Grüsse gehen an Martin (Protector), der mich gewähren ließ. Wenn nur alle Frauen so wären…













15.02.2010, Eine Wanderung über den oberen Gang meines Bücherregals

Bevor ich hier jetzt Realitätskosmos betreibe, muss ich den "Ab-und-an-nur-mal-ins-Internet-Guckenden" (wegen Ebay, Routenplaner, Mails, die man nicht beantwortet und deren Inhalt sich im geistigen Vakuum auflöst…)…oder den "Wo-ist-denn- eigentlich-die-TV-Fernbedienung" und "Schatz-hast-du-die-Kinder-ins-Bett-gebracht?" Leuten Punkrocksuppe servieren…bevor sie ins Bad eilen und gucken, ob das Badewasser fertig ist…bevor sie das Schlafzimmerfenster zumachen, weil es frisch und kalt genug ist für die Nacht…bevor sie sich ins Leben lümmeln und in den Sessel fallen lassen…also das letzte Video aus meinem Studio in Ghost-Town:



So. Angeguckt? Schön? Es ist relativ gut bewertet worden, die Band war zufrieden und ich bekam schon ängstliche Mails: "Wir würden auch so was haben wollen. Aber es darf nix kosten." Klar doch. Auch die nächsten Verbrechen mit bewegten Bildern sind gratis für Gucker und Band, die damit youtubemäßig gepusht wird.

Nun zur Wanderung durch die Wirren meines Bücherregals. Ganz oben. Vierter Stock. Wir nehmen von links beginnend ein Buch, Seite 44, Satz 4 und dann ab da vier Sätze. Mal sehen was da jetzt passiert. Kann nur komisch werden. Also dann (ich füge zur Entspannung mal unkommentierte Bilder mittenmang)…viel Glück, mein treuer Leser!

"Irgendwas muss hochkommen, wenn ein Schiff sinkt."
Freddie ließ den Wein in seinem Glas kreisen. Dann blickte er auf und fügte langsam und nachdenklich hinzu: Aber es ist nichts hochgekommen…und dabei hat die U.S. Navy die ganzen Gewässer hier mit all ihren Geräten abgesucht.
"Man braucht zwei Schlüssel", erklärte sie mit Automatenstimme, während sie ihr zu den Schließfächern vorausging. "Den einen bekommen sie. Den anderen behalten wir. Aber man braucht beide um das Fach zu öffnen."



Mitten in der Nacht hatte Aiken seine reich ausgestatteten Zimmer im Rathaus verlassen und sich in das Justizgebäude in der Siebten Strasse, Ecke Bryant, begeben, in dem auch das Polizeipräsidium, das Büro des Bezirksstaatsanwaltes und das Bezirksgefängnis lagen. Er hatte das Vorzimmer von Bezirksstaatsanwalt Chris Locke in Beschlag genommen und saß an seinem Schreibtisch, der normalerweise einer Sekretärin gehörte.
Der Bürgermeister war eine imposante Erscheinung, trotz seines für einen Politiker nachteiligen Körperbaus- er war nur einen Meter siebzig groß und so dünn, dass der Witz umging, man könne ihn im Profil nur dann sehen, wenn er die Zunge herausstreckte.
"Unsere Jungs wollen ja nicht mal die normalen Gasmasken im Kampf tragen, weil sie ein bisschen unbequem sind. In Ganzkörperanzügen könnten sie niemals einen befestigten Strand erobern."
"Was willst du mir damit sagen? Wir sind erledigt, lasst uns in Deckung gehen und warten, bis wir alle nur noch Wiener Schnitzel essen?"
Bis zur Mittagspause hatte ein forensischer Anthropologe im gerichtsmedizinischen Institut mit der Untersuchung dreier Kisten voller Knochen begonnen. Die Kleider, von denen die meisten bis zur Unkenntlichkeit zersetzt waren, und der Rücksack, der ungeöffnet geblieben war, wurden in das Labor der Scientific Investigation Division, der Spurensicherung des LAPD, gebracht.
Eine Sondierung des Grabungsrasters mit Metalldetektoren förderte eine einzige Münze zutage- einen 1975 geprägten Vierteldollar, der in ungefähr derselben Tiefe wie die Knochen etwa fünf Zentimeter neben dem linken Beckenknochen gefunden wurde. Die Vermutung war, dass sich der Quarter in der linken vorderen Tasche der Hose befunden hatte, die wie das Körpergewebe längst verwest war.



Der SPIEGEL kontaktierte mich wenig später und wollte über diesen Vorgang aktuell berichten. Leider ist durch eine mir nicht bekannte Indiskretion eine Kopie einem anderen Presseorgan zugespielt worden, und die FRANKFURTER RUNDSCHAU berichtete vergleichsweise mild darüber. Der Verfasser des Spähberichts ist halbjournalistisch ausgebildet und war dem Ministerium offenbar auch bei anderen Veranstaltungen als professioneller Späher von Nutzen. Eine Auseinandersetzung der Opposition mit der Regierung des Saarlandes führte zu einer Rücktrittsforderung, der Minister Leinen, gestützt auf die sichere Regierungsmehrheit, aber nicht entsprechen musste.
Die Düsenmaschine kam mit halber Kraft auf sie zu. Noch immer unglaublich schnell. Das Geräusch der Maschine lag weit hinter ihr. Wie ein großer Hai über dem Wald.
"Wohnt er wirklich in einer Höhle, die steinerne Tiger und elektrische Fische bewachen? Will er wirklich die Welt zerstören?"
"Kimala ist mächtig, sehr mächtig." Poros schaut zum Vulkan hinauf.
"Fang! Ich zieh dich zum Boot!"
Wie lange ich schon hilflos im Atlantik herumpaddele, weiß ich nicht. Ebenso wenig, wie oft ich versucht habe, wieder auf mein Surfbrett zu kommen, um mein tonnenschweres Segel aufzurichten.
Dieses Foto aufzubewahren, wäre dem jungen Mann vorgekommen wie das Sammeln gebrauchter Q-Tips. Um eine Situation, einen Gegenstand, einen Blick, eine Phase, wie es heißt, festzuhalten, schien ihm jedes von der Fotografie verschiedene Mittel sinnvoller. Die Konkretion eines Bildes, fand der junge Mann, half der Erinnerung nicht, im Gegenteil, ein Foto verhielt sich der Erinnerung gegenüber altklug, fiel ihr ins Wort, wollte sie berichtigen und Erlebnisse nicht zu Erfahrung werden, sondern sie unermüdlich als Episode wiederauferstehen lassen, als abrufbare Singalong-Weißtdunochs aus der Oldiejukebox. Es störte nicht, dass ein Stück fehlte, der Ton vielleicht, nein, man denke an die deprimierenden Ergebnisse, die Videokameras hervorbringen.
Dabei hätte er die zitternden Beine zu gerne einen Moment lang ausgestreckt. Er fühlte sich mies. Nicht ganz so beschissen wie gestern, aber die sechs halben Liter und das frühe Aufstehen hatten durchaus ihren Tribut gefordert. Der kurze Sprint tat sein übriges.
Diesmal war es mein schnurloser Rasierer. Beim zehnten Mal ist es ein vibrierender Dildo. Der Sicherheitsbeamte hat mir das erzählt. Da war ich schon an meinem Zielort, ohne Koffer, und dabei, mit dem Taxi nach Hause zu fahren und mein Flanelllaken in Fetzen auf dem Boden vorzufinden.
Blanchard drückte auf die Klingel.
Da kam dieses alte fette Girl an die Tür, sie wog so zwischen 250 und 300 Pfund. Sie hatte dieses riesige Tuch um sich rum drapiert, und ihre Augen waren sehr klein. Sie schienen das einzige an ihr zu sein, was klein war.
Nur wer direkt von der UEFA angefordert wurde, stand nicht vor der Gewissensfrage. Allerdings wurde er vom DFV auch nicht für spannende BFC-Spiele nominiert. Der Typ, der jahrelang der Schiedsrichterkommission vorstand, war wohl auch Mitglied bei Dynamo. Darum haben wir uns kaum geschert.



Aber später im Krankenhaus, als meine Mutter meine Hand hielt und langsam mit ihrem Zeigefinger über jeden meiner Nägel fuhr, sagte sie: "Dein Vater. Er befand sich ständig in einem Tanz. Und er konnte einfach nicht tanzen."
Und auch auf deinem Sessel bist du nicht immer untätig gesessen. Es gab eine Zeit, da hörte ich dich Flöte spielen. Du hast, das ist wahr, kein gutes Gehör. Nicht die leichteste Melodie hast du fehlerfrei spielen können.
Bald informierte sie ihn über ein Telephongespräch, das sie soeben mit einer Freundin geführt hatte.
Er hatte den Eindruck, dass ihr jeder Vorwand recht war, ihn von der Arbeit abzulenken. Aber er wusste nicht, mit welcher Begründung er sich derartige Störungen verbitten wollte. Er fürchtete, sich lächerlich zu machen, wenn er zu seiner Rechtfertigung die wenigen fragwürdigen Sätze vorwies, die er tagtäglich in der Überzeugung, dass er sie später doch in den Papierkorb werfen würde, voller Hektik niederschrieb.
Hübsch siehst du aus, meinte er, obwohl sie ihm ungeschminkt noch viel besser gefiel, und in der Absicht sie zu küssen, stand er auf und tat einen Schritt auf sie zu. Doch sie streckte, aus Furcht, er könnte ihr Make-up beeinträchtigen, abwehrend beide Arme in seine Richtung und ging daraufhin in die Küche, um die Kaffeemaschine in Gang zu bringen.



Der Kaffee lief gerade durch den Filter, als es dreimal nacheinander klingelte. Ernst Besslein öffnete die Tür und begrüßte die Rittmeiers wie immer voller Überschwang.
Mit staksigen Schritten geht er zum Telefon und wählt die Nummer des Institutsleiters.
Ein Automat meldet sich, und nach einem kurzen Augenblick des Unwillens sagt sich Bark, dass es so und nicht anders am besten ist, das Hologramm wird seine Worte konservieren und nichts wird die je ungesprochen machen können.
"Ich habe einen Unfall mit tödlichem Ausgang zu melden", sagt er klar und akzentuiert. "Den Unfall meines Kollegen und Freundes Mont Holus. Ich beantrage hiermit eine öffentliche Untersuchung des Falles!"
Ich stellte mir vor, dass er zu ihr hochsah, als er sagte: "Lassen Sie nur!", oder dass er sich abwendete von ihr, als er sagte: "Lassen Sie nur!" Ich stellte mir vor, dass er sich auf die Handflächen stützte, die Beine anzog an den Rumpf, dass er so, auf Knie und Handflächen gestützt, einen Augenblick verharrte, gleich hoch oder nicht ganz so hoch wie seine Hunde, dass er sich dann aufrichtete. "Es geht schon", sagte er und ich hörte ihn gehen.
Imgrunde, fand Mechtel, wäre diese Führung insofern nicht notwendig gewesen, als Frau Meulemann außer einer aufsehenerregenden Anzahl von Kindern auch eine aufsehenerregende Anzahl von Blumensträußen zu bekommen pflegte. Aus Platzmangel und gewiß nicht aus Undank standen sie sehr liebevoll arrangiert in Klinikvasen längs der Korridorwand und machten der Südkoreanerin, die sie ordnen und mit Wasser versorgen musste, ihren Aussagen gemäß, bei weitem mehr Arbeit als die bescheidene Frau Meulemann. Umstellt, wie sie es gerade war, von Jill und Ino, Helene Wulsdorfer, Cohn-Aufrecht und Fritzchen, der allerdings gleich beiseite trat, am einzigen Tisch Platz nahm und den Rest eines verspäteten Mittagessens in sich hineinschlang, konnte ihr Mechtel seinen Glückwunsch erst aussprechen, nachdem er die übrigen Anwesenden begrüßt hatte.
Während die seinen Schnurrbart kurz, aber beifällig zur Kenntnis nahmen, reagierte Frau Meulemann nicht einmal mit einem überraschten Blick darauf.
Sie schwieg. Sie dachte an die anderen acht Freier und fand sie alle viel besser als den neunten.



Wie ihre Tochter betrachtete sich auch Teresas Mutter gern im Spiegel. Eines Tages stellte sie fest, dass sie viele Falten um die Augen hatte, und sie sagte sich, dass ihre Ehe ein Irrtum war.
Sie wollte mit Shona und Tracy nach Edinburgh zu einem Konzert in den Charlton Studios. Eigentlich wollte sie nicht ausgehen, jetzt wo sie ihre Tage hatte, denn Shona hatte gesagt, dass die Jungs das immer genau wissen, die riechen es einfach, egal, was man dagegen macht. Shona kannte sich aus mit Jungs. Sie war ein Jahr jünger als Nina, hatte es aber schon zweimal gemacht, einmal mit Graeme Redpath und einmal mit einem Franzosen, den sie in Aviemore kennengelernt hatte.

16.01.2010, Olbernhau liest! und mein literarischer Sperrmüll...

Bevor es losgeht, muss ich natürlich erstmal alte Sachen aufarbeiten. Auf der Vorgängertagebuchseite habe ich meine Versuche eine gescheite Außentemperatur zu erhaschen thematisiert. Schwerpunkt meiner folgenden Aussprache mit dem Hausmeister war die Abbildung derselben, ohne das ich einen Sensor außerhalb der Wohnung platziert habe. Dies ist nach wie vor so. Der Wohnungsverwaltungsknecht hat insgesamt drei Sensoren an verschiedenen Fenstern installiert, wovon mir einer die Temperatur liefert. Eine Debatte um Frequenzen und Frequenzgebühren gab es nicht. Meine Basisstation übte insofern Rache, dass sie ihm tagelang meine Innentemperatur (20 Grad) auf sein Display unter der Rubrik Außentemperatur projizierte. Mittlerweile haben sich aber meine Basisstation, seine Sensoren und seine Basisstation außergerichtlich geeinigt. Mein Außensensor schmollt in einer Schublade.
Meine Privatlesung in den eigenen vier Wänden war auch fortschreitend. Im vergangenen Eintrag brachte ich Dir (lieber Homepagebesucher) mehrere Figuren nahe. Deren Ausgangslagen haben sich nunmehr verändert.
Der Kieferchirurg ist inzwischen süchtig nach privat vorgenommenen Vollnarkosen. Heiner hat sich verselbstständigt und dann Pleite gemacht, weil seine Selbstständigkeit erst durch die Rezession und dann durch eine Hochkonjunktur den Bach runter ging. Jene Hochkonjunktur und das damit verbundene Überforderungssyndrom bringt ihn mit anderen Rezessionsopfern in die psychiatrische Klinik, wo schon sein Schwiegervater untergebracht ist.
Tauchen wir also mal kurz ein:

Nachdem Enno Mürl eher das weite gesucht hatte als gegangen war, wartete Heiner die Wirkung der schillernden Kapseln ab, die er hastig geschluckt hatte, bevor er mit jener medikamentös erzeugten Beschwingtheit in den Korridor trat, wo er um die in Gruppen beieinander stehenden Schizophrenen, Kleptomanen, Sadisten, Masochisten, Hysteriker, Manisch-Depressiven, Pyromanen und potentiellen Amokläufer der gehobenen Kreise von N. und um seinen Schwiegervater, der offensichtlich gerade wieder einmal nach einer von seinen Selbstbetäubungen das Bewusstsein wieder gewonnen hatte, einen Bogen machte.

In der Klinik selbst hat Heiner unter den Bankrotteuren Freunde gefunden, Leidensgenossen gewissermaßen. Professor Winzenried, der Leiter der Anstalt, trägt eine kugelsichere Weste und hat wegen der Pyromanen überall Feuerlöscher anbringen lassen. Nun lernen wir paar Freunde von Heiner kennen.

An diesem besagten Nachmittag fand Heiner in der besagten Sitzecke zunächst einzig und allein den Klebstoffhersteller Anselm Fese vor, in dessen Fertigungshallen Gerichtsvollzieher herumgeisterten. Doch kaum dass er neben Anselm Fese Platz genommen hatte, der ihm gestand, dass er, wie immer, wenn sich sein Überforderungssyndrom verschlimmerte, in der vergangenen Nacht sein Bett genässt hatte, erschien auch schon auf der Bildfläche der Schraubenproduzent Herwig Wedemeier, den Nacht für Nacht der Alptraum heimsuchte, er könne die zahllosen Schrauben, die sich in seinen Lagerräumen kistenweise von den Fußböden bis zu den Decken häuften, erst dann an den Mann bringen, wenn er, ohne dass ihm auch nur ein einziger Zählfehler unterlief, deren genaue Stückzahl herausgefunden hatte, indem er höchstpersönlich Schraube für Schraube zählte. Sobald er eingeschlafen war, fing der Schraubenproduzent die Schrauben, die er produziert hatte, zu zählen an.

Nun, ich bin also ohne Schraubenkisten (Gellert Szenario 12 berichtete davon, wie ich beinahe mal Vertreter der Adolf Würth GmbH geworden wäre) nach Olbernhau gereist, um der dortigen Veranstaltung von "Literatur Erzgebirge" im Theater Variabel beizuwohnen. Parallel und included fand eine Vernissage eines mit Preisen, Stipendien und Dozentien behafteten Exil-Olbernhauers statt, der wohl dafür sorgte, das neben vielen Bildern mit Klecksen, auch viele Leute zugegen waren, die Rotwein aus riesigen Glasnäpfen tranken. Es war weniger Tee und mehr Geistesupperclass zugegen.



Als Jener dann am Ende des Abends auch noch selbst aus seinem parallelen Literaturschaffen vortrug, welches alle, aber auch alle Bereiche der Literatur abdecken sollte, erinnerte ich mich an meine erste Tagebuchseite die ja den Lyrikgenerator vorstellte, der von Witzbolden aus der Berliner Schaffenszene entworfen wurde. Ein kleines Programm, wo man drei Worte eingibt und zwanzig herauskommen. Sinnfrei versteht sich. Bei näherer Betrachtungsweise hängen dann doch alle Worte zusammen. Nähere Betrachtungsweisen unterliegen übrigens einem forschend-kreativen Blick über das Rotweinglas hinweg.
Ich lehne es ab progressive Literatur vorzutragen. Ein Gedicht über Frequenzkonferenzen und zwischenmenschliche Störungen trug ich meinem Hausmeister nicht vor, als er mit Schneeschippe an mir vorbeieilte.
Aber zurück zu den Freunden von Heiner.

Bemüht, seinen Mundgeruch mit Duft zu überlagern, klatschte er sich gerade ganze Lachen eines grünlichen Rasierwassers aus einer schwarzgoldenen Flasche auf seine ein wenig eingefallenen Wangen, als der Heiner bereits von der Speckschwarte (Anm. Szenelokal) her bekannte Zwiebackfabrikant Jakob Bittl auftauchte, der seit dem Anbruch der Rezession die Kunstwerke, deren Kauf er in den Jahren des Wirtschaftswunders den Ruf, ein namhafter Kunstsammler zu sein, zu verdanken hatte, abzustoßen trachtete, um mit den Erträgen aus dem Verkauf dieser Kunstwerke, die jeder bestaunte, keiner jedoch erwerben wollte, zumindest den Bankrott seiner Zwiebackfabrik zu vertagen, über der, nicht anders als über der Schraubenfirma von Herwig Wedemeier und der Fertigbauhausfirma von Heiner, die Pleitegeier immer engere Kreise zogen.
Während der Klebstoffhersteller Anselm Fese den Schraubenproduzenten Herwig Wedemeier, der stets einen Plastikbeutel voller Schrauben bei sich trug, klarzumachen versuchte, dass keine Menschenseele jemals auf den Gedanken kommen würde, von ihm, Wedemeier, zu fordern, die genaue Anzahl der zahllosen Schrauben, die sich in seinen Lagerräumen häuften, herauszufinden, weinte der Zwiebackfabrikant Jakob Bittl mit der Diskretion eines wohlerzogenen Menschen, sei es wegen der Unverkäuflichkeit seines Zwiebackberges, sei es wegen der Unverkäuflichkeit seiner Kunstschätze, zu denen unter anderem ein Sandhaufen zählte, den ein namhafter Künstler eigenhändig vom Sandkasten eines Kinderspielplatzes auf eine Bronzeplatte geschaufelt hatte, vor sich hin.

Bevor nun Heiner als Zeichen der Solidarität Jakob die Nase und das Gesicht putzt, muss vielleicht noch erwähnt werden, dass der Sandhaufen ein Kunstobjekt mit Verfallscharakterwert ist. Weniger die Zwiebäcke, die später in den Lagerhallen schimmeln, als vielmehr die Art und Weise und vor allem die Aggression, mit der der Staubsauger in der Hand des Dienstmädchens von Jakob Bittl gegen heruntergerieselten Sand vorgeht sind schon allein Grund vor einen Zusammenbruch.
In solchen Situationen hilft nur Solidarität von Leidensgenossen.

Dass die bevorstehenden oder die bereits über die Bühne gegangenen Bankrotte der Firmen die Herren, die wegen ihrer Überforderungssyndrome in Bezug auf die Entleerung ihrer Blasen, auf das Putzen ihrer Zähne, auf das Kämmen ihrer Haare, auf das Abrasieren ihrer Bartstoppeln, auf die Reinigung ihrer Achselhöhlen und ihrer Geschlechtsteile oder auf das Zuknöpfen ihrer Hosenlätze nicht selten die Hilflosigkeit von Kleinkindern an den Tag legten, einander menschlich nahe gebracht hatten, war kein Wunder.



Im Prinzip ist "Hilflosigkeit" ein dehnbarer Begriff und vor allem interpretierbar. In alle Richtungen. Ich zum Beispiel fühle mich völlig hilflos, wenn man mich in eine 08/15-Disko stellt und ich die dortigen Leute sehe. Wenn man dazu "Ballermann-Hits#346" auflegt, wandelt sich die Hilflosigkeit in Verzweiflung und wenn man mich diesbezüglich mal in eine freiwillige Exposition jagen will, dann sperrt man mich am Besten zum Hüttengaudi in eine "Apres-Ski"-Hütte auf den Alpen. Mit ringsum nix. Und drinnen mit dem Dummheitsjargon und der vorgetäuschten Fickkunst. Dann doch lieber Olbernhau liest!



Disko: Weniger Bolschoi Ballett, mehr Klosett, bitte!

Je nachdem, bei wem das Überforderungssyndrom gerade überhandnahm oder abflaute, ließ man sich helfen oder war man behilflich. Derjenige der gerade imstande war, ein Frühstücksei zu verzehren, fütterte den, dem vorübergehend jegliche eigenhändige Nahrungseinnahme unmöglich war. Derjenige, der vorübergehend imstande war, eine Tasse Kamillentee zu leeren, netzte dem, der sich hiervon vorübergehend überfordert fühlte, mit Kamillentee die Lippen.
Während Heiner dem Klebstoffhersteller den Hosenlatz zuknöpfte, schnitt dieser ihm die Zehennägel. Während der Zwiebackfabrikant dem Schraubenproduzenten die Zähne putzte, leistete Herwig Wedemeier Jakob Bittl, den sein Überforderungssyndrom daran hinderte sich anzukleiden, Zofendienste.

Sollte ich jetzt was zu den Artisten im "Variabel" bringen? Es war bunt. Mancher saß, manche stand. Elia stand mehr, denn er musste die jeweils folgenden Künstler ansagen, während sich die Bühnenvorgänger unter Applaus auf die Haupttribüne zurückzogen.
Neben mir saß eine Frau, die keine "Weight Watchers"-Vertreterin war. Als jene dann selbst vortrug, konnte ich über den leeren Platz hinweggucken und dort saß eine weitere Frau, mittlerer Jahrgang, also in den besten Jahren von hinten nach vorn gerechnet. Sie hatte mich bei meiner Musterung ertappt und ich versuchte so zu tun, als ob ich einer Geschichte von Fallada lauschte, welche die Frau, die vorher direkt neben mir saß, wie schon erwähnt, vortrug. Ich guckte weg und wieder hin. Wir machten das geschickt. Wenn einer guckte, guckte die andere nicht. Kurzfristig tastete ich mein Gesicht ab, ob ich nicht doch aus Versehen vergessen hatte die Gasmaske auszuziehen, die ich am Morgen während der Masturbation trug.



Dem war nicht so, sonst hätte mich auch vorher die Verkäuferin im Bahnhofsnähe -NETTO nicht sofort erkannt und gefragt, ob ich denn nun eine Lösung gefunden hätte, wegen dazuverdienen, und so. Erstaunlich, welch fotografisches Gedächtnis Supermarktangestellte besitzen. Wahrscheinlich liegt das an der Abwechslung. Während sie die doch ziemlich gleich aussehenden Kartoffelsäcke nicht beim Vornamen nennen, geschweige denn unterscheiden können, hinterlassen gutaussehende junge Herren einen bleibenden Eindruck zwischen SchülerInnen, dem üblichen Einkaufspöbel, dem üblichen Wochenendeinkaufspöbel und der üblichen Einkaufspöbelbegleitgesellschaft in Form von uninspirierten Männern und hoch motivierten Kindern jeden Alters. Was ich sofort merkte: sie will dich im Team! Sie braucht dich, um jemanden in den Kaffeepausen solidarisch bemuttern zu können.
Okay, Vermutung.

Vielleicht ist es dir ein Trost, wenn ich dir beteuere, dass nicht nur du allein am Ende deiner Weisheit angelangt bist, ich bin es auch, stieß Heiner empathisch hervor.
Am Ende unserer Weisheit sind wir alle, erwiderte der Klebstoffhersteller, der seit einigen Minuten einen ätzenden Uringeruch ausströmte, der verriet, dass er es offensichtlich nicht dabei bewenden ließ, lediglich sein Bett zu nässen.
Unsere Zukunft ist ein Buch mit sieben Siegeln, sagte Jakob Bittl.
Nach meinem Offenbarungseid kann ich meine Zukunft beim besten Willen nicht mehr als ein Buch mit sieben Siegeln bezeichnen, widersprach ihm der Klebstoffhersteller.

Wieder mal ein Mutterkomplex. Dabei war ich optimistisch nach vorn gegangen, als ich aus meiner Haustür trat. Der Wind stand günstig, ich war entwurmt und geimpft und voller Inspiration nach Olbernhau gereist, um im Windschatten der Inspiration irgendwo zwischen Pfaffroda und Blumenau ein Nachtlager zu finden, auf dem zwei Kissen drapiert sind. Zur Not hätte ich auch streitend an der einzigen Zudecke gezerrt.
Dass daraus wohl nichts geworden war, stellte ich spätabends nach der Rückkehr fest. Es lag weder Haarlackduft in der Luft, noch standen unsichere Fremdschuhe herum. Aber es gab Zweitligafußball im TV. Und das ist auch was. Nach drei Minuten stand fest, dass ich noch nicht rückrundenbereit bin. Winzenried und Kollegen würden das als Belastungsnachwehen aus dem "Variabel" bezeichnen.

Dass die Wahnideen, Zwangsvorstellungen und Exzesse der wohlbetuchten Psychopathen, die weder vor Selbstmordversuchen noch vor Morddrohungen, Messerstechereien, Brandstiftung, Plünderungen von Medikamentenschränken, Raufereien mit Pflegern und Vergewaltigungen zurückschreckten, auch in der Psyche des Psychiaters Winzenried ihre Spuren hinterließen, verriet Heiner an diesem späten Nachmittag das Verhalten des Leiters der psychiatrischen Abteilung, den er in der Nähe seines Krankenzimmers am Ende des Korridors vor einem Fenster neben einer Patientin stehen sah, die Professor Winzenried gerade ein Marzipanei überreichte. Ungeachtet dessen, das Heiner ein Marzipanei als Geschenk für einen Psychiater nicht eben passend erschien, verwirrte es ihn dennoch beträchtlich, dass sich Professor Winzenried bei der Patientin nicht etwa bedankte. Vielmehr presste Winzenried mit einem lauernden Gesichtsausdruck das Marzipanei gegen sein Ohr, ehe er es blitzschnell durch das geschlossene Klinikfenster schleuderte, von dem die Scherben klirrend auf den Fußboden fielen.


Diese Attentatspsychose und tickende Marzipaneier führten Winzenried dann selbst in ein Patientenzimmer der von ihm geleiteten Anstalt. Heiner trug an jenem Tag des Scheibenbruchs einen indigofarbenen Schlafrock und ein kobaltblaues Halstuch.
Ich trug in Olbernhau nichts aus der Reihe Tanzendes, wie mancher nach meinem Wolkenstein-Report vermuten würde. Ganz bieder eine italienische Sportartikelherstellerobertrikotage, einen 5-Euro-Gürtel, wo ich schon zweimal (glücklicherweise, liebe Leser!) mit einer haushaltsüblichen Küchengabel zusätzliche Löcher durch das Lederimitat mit extremer Widerstandskraft stoßen durfte.
Ansonsten war ich nicht leicht bekleidet, der Witterung angemessen, sagt man wohl. Aber zurück zur Frau (?). Im Falle Heiner ist das Dille. Jene verfiel dem Zeitgeist und frönte der Emanzipationsmanie. Artikel wie: "Wie man als Frau seinen Mann stehen kann" oder "Sind die Fittiche des Mannes die Fesseln einer Frau", weckten genauso Begeisterung wie: "Existenzangst ist keine Männersache".
Heiner war inzwischen selbstständiger Bausachverständiger, aber ohne Aufträge. Kurzfristig (ich umschreibe das mal kurz) wurde er der fünfte Sachverständige in der Kette, der den ersten Sachverständigen bestätigte. Auslöser waren Mieterklagen, die abgeschmettert werden mussten. Genauer gesagt: ständig von der Badezimmerwand in die Badewanne stürzende Warmwasserboiler.
Heiner als Gutachter und Sachverständiger. Das dies nur Mist und Chaos, also Ordnungspenetranz werden würden, war mir klar. Es kommt aber darauf an, wie man das schreiberisch rüberbringt. Die verstorbene Autorin war da...ach, lest selbst:

Aus einer fast sadistischen Gewissenhaftigkeit hatte Heiner sich nämlich nicht damit begnügt, die Badezimmer der betroffenen Mieter zu inspizieren. Nachdem er in diesen Badezimmern außer den in den Badewannen liegenden verbeulten und verbogenen Warmwasserboilern auch schmutzige Waschlappen und Klosettbecken mit Kalkrändern und Kotspritzern sowie einen blinden Spiegel, auf dem mit Lippenstift geschrieben stand: "Ficken ist gesund, macht dich kugelrund", in Augenschein genommen hatte, hatte er darüber hinaus in der Absicht, auf weitere Spuren der Zerstörungswut der Mieter, die der Bodesa viel Unkosten ersparen konnte, zu stoßen, auch die übrigen Räume der nach abgestandenem Tabakrauch, Schweiß, Urin, Curry und Knoblauch riechenden Behausungen besichtigt...
Im Laufe von kürzester Zeit war er zu einem Spürhund geworden. Kein Pappstück, mit dem man zersplitterte Fensterscheiben verklebt hatte, kein Brandloch, das den Fußbodenbelag der Bodesa verschandelt hatte, keine von den auf Tischen, Treppenstufen oder Stühlen herumliegenden Türklinken, die jetzt als Colts von den frechen Bälgern verwendet wurden, die in den schmuddeligen Schlafzimmern gezeugt worden waren, in denen er gebrauchte Präservative und Scheidenklistiere hatte herumliegen sehen, waren ihm entgangen.
Schon bevor er die erste Wohnung betreten hatte, hatten ihm an die Treppenhauswände geschmierte Sprüche wie: "Ellis Fotze stinkt nach Schellfisch" oder: "Wer mit Horsti fickt, holt sich den Tripper" einen so nachhaltigen Vorgeschmack des Destruktionszwangs, von dem die Bewohner dieser Mietshäuser seiner Meinung nach gebeutelt wurden, verschafft, dass er sich während der Wohnungsbesichtigungen keinerlei Illusionen mehr hingegeben hatte. Wenn er ausnahmsweise einmal keine Spuren von Zerstörungswut hatte entdecken können, hatten ihn deren Vorboten, die sich Schlamperei, Schludrian, Verwahrlosung, Verkommenheit, Rauflust und Trunksucht nannten, darauf hingewiesen, dass der Vandalismus bereits abrufbereit vor den Türen der noch nicht demolierten Wohnungen darauf wartete, hereingebeten zu werden.


Seine Gutachten waren also akribisch und er erhielt Folgeaufträge. Heiner kam voran und plante eine Privatparty mit den mittlerweile entlassenen Kumpanen in seinem Eigenheim.

...zu der er außer den drei rezessionsgeschädigten Kleinunternehmern und deren Gattinnen auch den Makler Enno Mürl mit seiner derzeitigen Lieblingsmätresse sowie den Kompagnon des Maklers Egon Önne eingeladen hatte, der ihn um Verständnis dafür bat, dass er nicht in Begleitung einer Dame, sondern eines von ihm als zauberhaft bezeichneten jungen Herrn zu erscheinen gedachte.
Dille, die hocherfreut darüber war, dass sich ihr endlich die lange ersehnte Gelegenheit bot, ihre bisher ins Ghetto der Theorie verbannte Toleranz gegenüber Homosexuellen in die Praxis umzusetzen, arrangierte gerade auf der länglichen Teakholzanrichte in der unlängst zu einem Esszimmer umgestalteten hinteren Wohnzimmerhälfte Mozzarella, Parmaschinken, Honigmelonen, marinierte Champignons, Nudelsalat, Bel Paese und Zuppa Romana zu einem kalten Büffet, als die telegraphische Nachricht von dem überrumpelnd überraschenden Tod ihrer Schwiegermutter ihrem Mann einen Strich durch die Rechnung machte.

Die Party wurde ein Pietätopfer, nachdem Heiner seine Wut darüber überwunden hatte, dass sich seine Mutter wagte die Party durch ihren Tod zu canceln.
Angesichts der Leckereien, die beinahe Kunst sind, genauso wie Maler Bilder mit draufgepappten Nutellabroten in Ausstellungen für die Allgemeinheit freigeben und als Kunst deklarieren, dachte ich so bei mir an meine Revolution der Aktionskunst. Ausgangspunkt war 1987 das Lehrlingswohnheim in Mittweida. Sechzig Augenpaare starrten auf ihre Teller, die normgerecht beladen waren. Diese Norm war an einer Tafel neben der Durchreiche für jedermann ersichtlich: 15 Gramm Butter, 25 Gramm Streichmargarine, 15 Gramm Marmelade, 15 Gramm Streichwurst, 15 Gramm Schnittwurst, vier Scheiben Brot. Und dies pro Tag. Dazu Teeplörre.
Während also alles so starrte, nahm ich die Scheibe Leberkäse, die schon ordentlich angelaufen war und warf sie quer durch den Raum auf einen Pflanzenimitat aus dem VEB Kunstblumen und dort blieb die Scheibe hängen. Am Nachbartisch saß die FDJ-Dose, die wie von der Tarantel gestochen aufsprang und hysterisch schrie:
"Woanders müssen Kinder hungern, du Schwein!"
Inzwischen sahen alle auf und kurz darauf waren auch die Pädagogen und die kurzatmige Nachtschichtsfrau, der man früh immer den Teekübel auf den Stuhl heben musste, weil sich angeblich ihre Blase beim Heben von Lasten über fünf Kilo unwillkürlich entleerte, zugegen. Natürlich wurde ich von der Oberpädagogin aufgefordert die Scheibe Anlaufwurst aus dem, einen Äquatorstrauch simulierenden, Pflanzenkonstrukt zu entfernen. Dies geschah mehrfach, ich war plötzlich taub geworden und dazu rebellisch und nicht masochistisch, wie es die ganzen Augenpaare forderten. Glücklicherweise saß neben mir der Libero des Juniorenteams von Motor Zeitz II, der meine Aktionskunst zerstörte und die Scheibe in den Abfallbehälter entsorgte, was mir wiederum die Schmach ersparte, klein beigeben zu müssen.
Drei Tage später kaufte ich der FDJ-Furie eine kopierte BRAVO-Seite über "The Cure" für fünf Ostmark ab. Wahrscheinlich hat sie sich dafür frische Sachen aus der VEB Verbandwatte gekauft.
Nun, ich kam vom Thema ab. Es folgte die wohl spektakulärste Beerdigung, die ich je gelesen habe. Erst nachdem Heiner in tagelanger Arbeit und aus Geiz den ganzen Fresstisch allein aufgefressen hatte, wobei er dann doch auf sumpffarbene Mozzarellabällchen, aasig riechende Parmaschinkenröllchen, kakteenhaft trockene Melonenscheiben, wie Wasserleichen auf der Marinadenoberfläche aufgequollen treibende Champignons, Nudeln wie Schnürsenkel, den wie antikes Gestein zerbröckelnde Bel Paese und die zu morastigen Lachen zerlaufene Zuppa Romana stieß.
Die Folge war, dass er zwischen Schüssel, Couch und Buffet hin- und herpendelte und grün im Gesicht zur Beerdigung seiner Mutter erschien, was viele der anwesenden Größen aus Handel, Banken und Industrie als Größe in der Trauer sahen. Doch bald kippte die Stimmung, weil der Juwelier und der Kürschner der Verstorbenen aus vollem Hals und über die ganze Zeremonie hinweg herumheulten, was dann selbst den wachsamen Augen der anderen Gäste als zu geschäftstüchtig aussah, oder eben als Ausblick auf fehlende Einnahmen durch die Verstorbene, deren Kleider, Broschen und Halsketten später im Buch Dille beim Bügeln, Aufwaschen und Saugen aufträgt, weil sie durch den Geiz ihres Mannes keinen Weg sieht, sich damit irgendwo zu präsentieren und weil sie beim alltäglichen Einkauf im billigsten Discounter des Stadtteiles wegen ihres Nerzes bösartig und neidvoll angesehen wird.
Ich denke aber: wir sind bei der Beerdigung und der Witwer sollte auch betrachtet werden.

Da kann ich wirklich nur den Kopf schütteln, meinte er auch bei dem als Kaffeekränzchen gestalteten Leichenschmaus in dem Restaurant "Die Trauerweide".
Kopfschüttelnd schmierte er sich beim Verzehr eines Stücks Schwarzwälderkirschtorte rosige Buttercreme auf seine Brillengläser. Kopfschüttelnd goss er sich aus einem versilberten Kännchen Kondensmilch auf die Hosenbeine seines schwarzen Anzuges. Auch verleibte er sich, obwohl er niemals Süßigkeiten aß, ohne sich dessen bewusst zu sein, eine ganze Dose Würfelzucker ein, ehe er sich, durch seine mit rosiger Buttercreme beschmierten Brillengläser in die Richtung des noch immer rotzundwasserflennenden Kürschners und des ebenfalls nach wie vor rotzundwasserflennenden Juweliers blickend, bei seinem Sohn erkundigte, warum die beiden Ladeninhaber dermaßen untröstlich seien.
Sie werden schon ihre Gründe zum Greinen haben, entgegnete Heiner, der davor zurückschreckte, seinen ohnehin beunruhigend verwirrten Vater mit der nackten Wahrheit noch mehr zu verwirren.
Wenn man die beiden weinen sieht, möchte man fast meinen, dass irgendwer gestorben sei, murmelte Heinrich Wurbs mit einem geistesabwesenden Kopfschütteln.
Traurigerweise ist dies tatsächlich der Fall, erwiderte Heiner befremdet.
Wer ist denn gestorben, wollte sein Vater von ihm wissen.
Du willst mir doch hoffentlich nicht weismachen, du hättest bereits vergessen, dass deine Frau gerade erst beerdigt worden ist, stieß Heiner mit einer Bestürzung, die sich im Handumdrehen in Wachsamkeit verwandelte, hervor.
Offen gesagt, war mir dies momentan gänzlich entfallen, murmelte Heinrich Wurbs, um sich gleich darauf kopfschüttelnd bei seinem Sohn zu erkundigen, ob es nicht sonderbar sei, dass ein Witwer schon eine Viertelstunde nach der Bestattung seiner Gattin vergaß, dass diese zugrabe getragen worden war.
Da kann man doch wirklich nur den Kopf schütteln, fiel er, während sich rings um seine Person ein betretenes Schweigen verbreitete seinem Sohn ins Wort, der ihm riet, sich vorläufig über seine sonderbare Vergesslichkeit keine Gedanken zu machen.
Ich mache mir nicht nur darüber Gedanken: ich erlaube es mir überdies, an meinem Verstand zu zweifeln, rief sein Vater, indem er aufsprang und, ohne sich von irgendwem zu verabschieden, die "Trauerweide" verließ, vor deren Eingang sich bereits eine weitere Trauergesellschaft versammelt hatte.

Nun folgt der Sohn dem Vater hinterdrein und stellt ihn, wobei jener schon im Auto des Chauffeurs der DEITZ- Werke sitzt.

Ich denke nicht daran, mich zu beruhigen, rief sein Vater.
Solange ich mich noch darüber aufregen kann, dass ich schon eine Viertelstunde nach der Beisetzung meiner Frau vergessen habe, dass sie gestorben ist, habe ich zumindest eine minimale Chance, dem Wahnsinn zu entrinnen, der mir allem Anschein nach im Nacken sitzt, fügte er hinzu, ehe er seinen Sohn fragte, ob dieser ihm eine Gefälligkeit erweisen könnte.
Du müsstest lediglich jemanden in meinem Auftrag anrufen, meinte er.
Wen soll ich denn anrufen, erkundigte sich Heiner bei seinem Vater, dem es offensichtlich peinlich war, ihm den Namen der fraglichen Person zu nennen.
Mit einem verlegenen Gesicht streckte er seinen Kopf aus dem Wagenfenster und näherte seinen Mund dem Ohr seines Sohnes.
Die Person heißt Regina Wurbs, flüstert er Heiner zu, der zusammenzuckte, als wäre ihm ein Schlag versetzt worden.
Aber wir wissen doch beide, dass Mama telephonisch nicht mehr zu erreichen ist, stieß er hervor.
Obwohl ich weiß, dass sie sich niemals mehr melden wird, erwiesest du mir, wenn du mir lediglich mitteilen würdest, dass deine Mutter telephonisch nicht zu erreichen ist, eine große Gefälligkeit, erwiderte sein Vater.

Jetzt wird es typisch krümelig, aber bevor es komplett entartet, hatte die Autorin Kunstgriffe parat, die ihr Markenzeichen waren und Lehrbuchcharakter erfüllen.
Den so genannten "Irrsinnsdienst" für das gleich danach in aller Diskretion pensionierte Vorstandsmitglied der DEITZ Werke, also Heinrich Wurbs, erledigt nicht Heiner, sondern Dille zwei bis dreimal wöchentlich mit dem Satz:

Papa, ich habe übrigens vergebens versucht, Mama zu erreichen.

Somit ist dieses Projekt innerhalb des Buches abgeschlossen. Das nächste Abgeschlossene wurde dann nochmals geöffnet. Die ausgefallene Privatparty von Heiner, die der Trauerprozedur weichen musste, wird nun im Buch nachgeholt. Ausrichter für das Jetsetbegängnis ist der Zwiebackfabrikant Bittl.

Die Tatsache, dass Dille von Jakob Bittl, in dessen weitläufigem Vorgarten im Lichtkreis mehrerer Scheinwerfer eine phallusförmige Plastik erigierte, nach einem Handkuss mit Gnädige Frau angeredet wurde, verbuchte Heiner als einen persönlichen Erfolg. Obwohl er nicht daran zweifelte, dass seine Frau die Galanterie des Zwiebackfabrikanten vor allem dem Chinchillacape und dem breiten Brillantcollier seiner verstorbenen Mutter zu verdanken hatte, war er durchaus angetan von der Nonchalance, mit der Dille, kaum dass sie in Jakob Bittls Gründerzeitpalais getreten war, dass Chinchillacape, als handle es sich um einen Bademantel, achtlos von ihren Schultern rutschen und über die Marmorfliesen der Eingangshalle der Villa schleifen ließ, wo sich bereits Anselm Fese und dessen Gattin sowie Herwig Wedemeier und dessen Gattin Bimmy im Schweiße ihres Angesichtes mühte, den von drei Punktscheinwerfern angestrahlten Sandhaufen zu bestaunen, der, wie gesagt, von einem namhaften Künstler in Anwesenheit von Presse und Fernsehen vom Sandkasten eines Kinderspielplatzes auf eine Bronzeplatte geschaufelt worden war.
Während Fese, den sein Bankrott zum Vertreter der Klebstofffirma, deren Inhaber er einst gewesen war, deklassiert hatte, einen überaus demoralisierten Eindruck machte, musste Wedemeier offenkundig an sich halten, um nicht ständig übers ganze Gesicht zu feixen.



Nur die Andacht, nach der der von namhaften Experten zum epochalen Kunstwerk erklärte Sandhaufen heischte, verbot es ihm, sich damit zu brüsten, dass er seine Schraubenfabrik nicht nur haarscharf am Bankrott vorbeimanövriert hatte. Seit dem Tag, da ihn die nackte Existenzangst zu dem Slogan. "Zier dich mit der Schraube, die bei dir locker ist" inspiriert hatte, hatte Wedemeier dieser Schraubenfabrik dadurch zu atemberaubenden Aufschwung verholfen, dass er seine Schrauben, mit Klipsen, Schnallen, Ösen, Haken, Aufhängern, Druckknöpfen und Anstecknadeln versehen, ebenso zweckentfremdet wie klassenkämpferisch als proletarische Schmuckstücke an bonbonrosa Straßenständen an Maoisten, die damit ihre Maojacken zuschraubten, an Dissidenten, denen sie Hammer und Sichel ersetzten, an ketzerische Geistliche, die sie statt Kruzifixen an ihre Rosenkränze hängten, an Drogensüchtige, die in ihnen im Rauschzustand ein Weltwunder zu entdecken meinten, an Homosexuelle, die sie sich an ihren Hosenlatzverschlüssen befestigten, an Lesbierinnen, die lediglich daran lutschten, an Peepshowgirls, die sie sich stöhnend mit Schraubenziehern zwischen ihre Schenkel schraubten, an Frauenrechtlerinnen, die sie bei öffentlichen Veranstaltungen als Indizien für die Dominanz des Mannes anprangerten, oder an Umweltschützer verkaufte, die ihnen mit dem verdorrten Ast in der Hand und einem toten Hering in der anderen auf Tribünen stehend, unter dem rauschenden Beifall einer Menge, die rußige Windeln schwenkte, unter der Parole: "Ohne Schrauben kein Waldsterben, ohne Schrauben keine Flussvergiftung, ohne Schrauben keine Luftverpestung" den Kampf ansagten.
Dass auch die Gattin des Schraubenfabrikanten wie ein Christbaum mit Lametta mit Schrauben behängt war, von denen sie sogar eine wie ein Diadem auf der Stirn trug, wunderte Heiner keineswegs.

Bevor wir hier ausufern und dann die metallenen Blumensträuße begutachten, sollten wir noch mal die Kunst des Tages anlachen. Im Prinzip kann jeder Künstler sein. Man muss nur einen Namen dahinter stellen. Wenn es passt eine Vita. Wer fünfzig Semester Literaturwissenschaften studiert hat, wird sich zwangsläufig die Aufgabe stellen ein Buch auf den Markt zu werfen, egal ob es Inhalt hat oder nicht, egal, ob er was erzählen kann, oder nur in einer Studenten- WG wichtig in der Achsowohnungsmittelpunkdarstellenden Küche gesessen und schlau geguckt hat. Wenn er dann seine metaphernden Phrasen aus dem Küchengelaber in ein Buch packt, wird es längst nicht so sein, dass die Worte richtig zueinander angeordnet sind.
Im Prinzip kann auch jeder auf Leinwände klecksen. Ob es dann, wie auch schon erlebt, der Elefant zwischen zwei Heuhaufen als malendes Unikat in einer kreativen Phase tat, oder ein Baby mit Patschehändchen ist dabei völlig unerheblich. Man muss den Mist verkaufen können und damit hat die Autorin Recht.
Vielleicht frage ich die zwei Esel aus der Rochhausmühle, ob sie mir was zusammenkleckern und stelle es als letztes Gemälde des Generalsekretärs, hergestellt in geistiger Umnachtung und eingehüllt (oder das eben gelesene umgekehrt) in einen Poncho auf dem windumspielten Gipfel eines Andenberges, bei Ebay rein.
Im Grunde bin ich mehr der Bob Ross unter den Schreibasis. Klare Aussprache, wenig Klimbim. Zurück zum gutartigen Klimbim.

Während der Zwiebackberg in meiner mittlerweile stillgelegten Fabrik verschimmelt, suche ich, stundenlang vor diesem einem unaufhaltsamen Schrumpfungsprozess unterworfenen Sandhaufen stehend, dessen Sinn zu ergründen, meinte Jakob Bittl.
Welchen Titel hat der Künstler diesem Sandhaufen denn gegeben, fragte Heiner.
Er hat den Sandhaufen auf der Bronzeplatte: "Sandhaufen auf einer Bronzeplatte" genannt, erwiderte der Zwiebackfabrikant, ehe er seine Gäste zu seinem saalartigen Wohnzimmer komplimentierte, wo diese erneut nicht darum herumkamen, weitere Kunstwerke zu bestaunen, die sich von dem ehrwürdig anmutenden Mobiliar vor allem durch ihre ins Auge stechende Schäbigkeit unterschieden.
Was in diesem von einem betagten, aber überaus rüstigen Wohlstand zeugenden Wohnzimmer Mobiliar und was Kunstwerke waren, fand Heiner ohne jegliche Schwierigkeiten heraus. Darauf, dass es sich bei dem in einer Nische neben dem Wohnzimmer stehenden Senfglas um ein Kunstwerk handelte, wies ihn vor allem der Sockel hin, an den dieses Senfglas geleimt worden war. Darauf, dass es sich bei einem mit Hansaplaststreifen beklebten Besenstiel, dessen Titel "Verwundetes Putzutensil" lautete, ebenfalls um ein Kunstwerk handelte, wies ihn vor allem die Tatsache hin, dass dieser Besenstiel, von dem Jakob Bittl behauptete, er hätte eine Wende im Kunstverständnis herbeigeführt, nicht in einer Besenkammer, wo ihm Heiner keinerlei Beachtung geschenkt hätte, sondern in einem hochherrschaftlichen Wohnzimmer gegen die Wand gelehnt stand.
Dass auch ein Küchenstuhl, von dem der Zwiebackfabrikant behauptete, er hätte, um in seinen Besitz zu gelangen, ein Aktienpaket abstoßen müssen, ein Kunstwerk war, erriet Heiner ohne weiteres. Inmitten der chintzbezogenen Rokokostühlchen, der mit Intarsien gezierten Sekretäre, der samtenen Recamiers und der venezianischen Wandlüster, auf deren Armen vermutlich wegen eines Wackelkontakts die winzigen Glühbirnen wie Kerzenflämmchen flackerten, wirkte dieser Küchenstuhl dermaßen deplatziert, dass Heiner sich unverzüglich sagte, dass er sich um keinen Preis auf diesen zum Kunstwerk erklärten Küchenstuhl setzen durfte.
Ich muss dir gestehen, dass mir selten ein Kunstwerk zu Gesicht gekommen ist, das so eine massive Wirklichkeitsnähe ausgestrahlt hätte wie dieser Küchenstuhl, erklärte er Jakob Bittl, der schon im Begriff war ihn und seine übrigen Gäste zu einem auf einer Alabasterplatte befestigten Wäschetrockner zu führen, an dem ein trockener Socken hing.

So. Nach Kultur wird gegessen. Bevor wir zu Tisch sind, steige ich aus der Mühle aus. Was mich am Rande des variablen Kulturabends bewegte, kann sich jeder denken.
Nur soviel: ein Gemälde, auf dem verschiedene Farben vorherrschten, die eine Kunsttherapeutin zur Nachschulung getrieben hätte, war mit einer progressiv aufgeklebten Tube aus der Masse an Bildern heraus gestoßen worden.
In erster Linie wurde ich dadurch rational und praktisch motiviert. Wie ist die Tube befestigt? Mit Pattex-Sekundenkleber? Mit zweiseitig haftenden Klebeband?
Dann erreichte mich die kreative Seite meiner selbst. Was passiert, wenn die Tube im Laufe des Abends abfällt? Wird es dann Aktionskunst gerufen? Ändert so was die Aussagekraft des Bildes?



Anschließend ging es wieder praktisch vorwärts. Was steht auf der Tube? Gibt es Rückschlüsse durch die durch die Tube beherbergten Masse? Ist es eine Zahnpastatube und will der Künstler die den Stomatologen aufgebrummte Praxisgebühr anprangern? Ist es ein Nahrungsergänzungsmittel, was uns zu bewusster Nahrung animieren will? Ist es ein Kosmonautenfrühstück?
Ich trat nicht nahe genug an die Tube, auch weil ich mich zwingen wollte mal-was-im-Raum-stehen-zu-lassen. So ging ich als echter Dadaist aus der Vernissage mit Literatur. Das letzte Wort gebührt heute der verstorbenen Wortkünstlerin. Ausgangslage ist das Essen nach dem Kulturschock.

Allerdings wurde diesen Erwartungen, die bereits der Anblick der Tafel aufgeputscht hatte, die Vorspeise, die Irmeli Bittl servierte, in keiner Weise gerecht. Denn das, was die Gattin des Zwiebackfabrikanten ihren Gästen auf die zuoberst platzierten Meißner Porzellanteller lud, war ein simples Radieschen, das auf ein simples Salatblatt gebettet war.

Danach hält Jakob Bittl die Zwiebackfabrikuntergangsrede und erklärt sein Haus zum Museum, ihn zum Museumsdirektor und Hausmeister gleichermaßen und seine Frau zur Garderobenfrau, Telefonfrau und Toilettenfee. Danach wendet sich das Blatt von Bestürzung in Anteilnahme.

Das Radieschen war einfach köstlich, beteuerte Fese Irmeli Bittl, als diese, eher beschämt über ein dermaßen unverdientes Lob, die obersten Teller von der Tafel abräumte.
Ich finde den Hagebuttentee fast noch köstlicher als das Radieschen, behauptete die am ganzen Leibe klirrende Gattin des Schraubenproduzenten, während der Gastgeber in die neben den Römern platzierten Weißweingläser aus einer Weinkaraffe eine Flüssigkeit goss, die, obwohl sie einem Weißwein zum Verwechseln ähnlich wirkte, von seinen gegen Reinfälle mittlerweile resistenter gewordenen Gästen von vornherein für alles andere als Weißwein gehalten wurde.
Auf das Schlimmste gefasst, nippten sie an den mit der argwohnerregend weißweinähnlich anmutenden Flüssigkeit gefüllten Gläsern.
Ist das etwa Lindenblütentee, erkundigte sich Heiner bei dem Gastgeber.
Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen, erwiderte dieser nicht ohne Verlegenheit.
Ich liebe Lindenblütentee, weil er mich an meine Kindheit erinnert, rief Dille in dem Augenblick, da Irmeli Bittl auf einem Silbertablett, in dessen Unterseite Jagdwildgeweihe graviert waren, das Hauptgericht hereinbrachte.
Obwohl sie jedem von den Gästen lediglich ein Spiegelei auf den zweiten Meißner Porzellanteller lud, trieb die Anwesenden schon das Mitgefühl, das sie für die Bittls empfanden, dazu, die Spiegeleier zu verzehren, als handle es sich hierbei um Delikatessen.
Dass die Nachspeise nur aus verschrumpelten, wurmstichigen, aber von Jakob Bittl eigenhändig in dem parkartigen Garten geernteten Äpfelchen bestand, von denen Irmeli Bittl jedem Gast mit einer Silberzange, bei deren Anblick selbst ein Michelangelo vor Neid erbleicht wäre, jeweils einen auf den dritten Meißner Porzellanteller rollen ließ, ermahnte Heiner, ein weiteres Mal den letzten Rest Begeisterung aus sich herauszuwringen. Auf die Gefahr hin, einen von den Würmern,, die unter den runzeligen, fahlen Apfelschalen ihre Gänge gruben, zwischen die Zähne zu bekommen, biss er mit einer soldatischen Tapferkeit in seinen Apfel.
Als Irmeli Bittl jedoch das Speisezimmer mit einer beachtenswerten Silberplatte betrat, auf der Zwiebackstücke, denen man es ansah, dass von ihnen der Schimmel abgekratzt worden war, pyramidenförmig übereinander geschichtet waren, reagierte Heiner wie auf einen schlechten Scherz...

02.01.2010, Start ins neue Jahrzehnt...des nicht mehr neuen Jahrtausends

Wie fängt man besser eine neue Tagebuchseite an, als mit einem Bericht über den Jahreswechsel? Da ich aber wieder einen Wanderreport schreiben müßte und solche zuhauf im Amtsblatt des Verwaltungsverbandes nach zulesen sind, lasse ich es bleiben...bis auf die rote Laterne, die mich durch den Nebel führte. Jene war neben dem Licht mit dem Album "Hell is empty and all the devils are here" bestückt. Das klingt nicht nur gefährlich, sondern ist es auch. Dem Textkram würdige ich keine Silbe, alles sicherlich Beichten und Lobpreisungen in Richtung Meister Flammenfuß. Was aber die dazugehörige Band ANAAL NATHRAKH für ein Feuerwerk abbrennt, ist aller Ehren wert.
Black Metal ist sonst mein Ding nicht, aber probieren sollte erlaubt sein. Spannenderweise hatte ich mir vorher Meshuggah's Werk "Nothing" genehmigt und diese Band scheint in sämtlichen Medienkonvertergremien einen positiv gestimmten Menschen sitzen zu haben, denn allerortens werden deren Werke hoch gehandelt. Was in den sauberen Riffs begründet sein mag, die mir aber beinahe zu sauber sind.
ANAAL NATHRAKH's Platte weist überraschenderweise genau solche Passagen ebenfalls auf, ist aber trotzdem (Wen wundert's?) völlig konträr. Die Gitarren dienen scheinbar nur hin und wieder zur Tempoverschleppung, denn der Drive des (leider) nur 36 Minuten- Werkes zieht seine Dynamik aus dem unglaublich flinken Geschepper und Geknüppel des Schlagzeugers. Meine Wunschvorstellung so was mal völlig ohne Gekreische, Gegrowle, oder Katarrhgesinge zu hören wird aber sicher nie das Streben der Krachmacher beeinflussen.
Wer auf Black Metal steht, kommt jedenfalls an dieser Band kaum vorbei...

Nun noch der literarische Start. Diesmal das Tohuwabohu einer verschiedenen Autorin, die ihre Lebenslast gern blumig in die Welt pustete:

Handlungsvorspann: Doktor Edwin Zeger, ein Mensch aus der gehobenen Mittelschicht, büßt auf seinem fünfzigsten Abenteuerurlaub in Papua seinen Penis ein, den ihm Kannibalen abschneiden. Danach verkriecht er sich in einer Anstalt.
Birgit Zeger ist die Frau des "Entmannten".
Regina Wurbs ist heiß auf die Mitgift der Zegers, denn sie hat ihren Sohn "geopfert" und mit der hässlichen Tochter der Zegers verbandelt.
Dille Zeger ist die hässliche Tochter, die auf der Entbindungsstation liegt.
Heiner Wurbs ist der gestrafte Sohn von Regina. Heiner ist fanatischer Anhänger des Kanzlers Werhat. Heiner hat für sich und Dille eine Eigentumswohnung auf Kreditbasis angemietet, die sich in der Nähe einer Ungeziefervertilgungsmittelfabrik und der städtischen Mülldeponie befindet.
Heinrich Wurbs ist der Mann von Regina und Vater von Heiner. Seinen Lebensmittelpunkt hat er als Fabrikdirektor der Viertaktmotorenwerke DEITZ.


Zu Heiners Leidwesen wurde die Geburt seiner Tochter, die er und Dille Martina zu nennen gedachten, von seinen Eltern keineswegs in der Weise gewürdigt, die er für angemessen gehalten hätte. Zwar erschienen Regina und Heinrich Wurbs mit einem bombastischen Blumenstrauß und mit einer Pralinenschachtel, die den Umfang eines Diplomatenkoffers hatte, in dem Ein-Bett-Zimmer, in dem sich Dille aufkosten der Zegers von ihrer Entbindung erholte. Doch obwohl seine Eltern ausschließlich über ihr Enkelkind redeten, das vollgesogen mit Muttermilch, mit den Fäustchen auf den Backen in Dilles Armen schlummerte, merkte Heiner es ihnen an, dass sie in Wahrheit weitaus mehr am Eintreffen des Kieferchirurgen interessiert waren, den seine Gattin mit Engelszungen dazu überredet hatte, das freudige Ereignis zum Anlass zu nehmen, um erstmalig nach seiner Neuguinea-Reise erneut in der Öffentlichkeit zu erscheinen. Während Heinrich Wurbs immer wieder die Augen auf seine Armbanduhr richtete, um auszurechnen, wie lange Doktor Edwin Zeger und dessen Gattin bereits auf sich warten ließen, sah Regina Wurbs sensationslüstern in die Richtung der Tür.
Heiner begann schon zu argwöhnen, dass sein Schwiegervater allem guten Zuspruch zum Trotz am Ende doch nicht den Mut aufgebracht hatte, sich aus der psychiatrischen Abteilung der Privatklinik herauszuwagen, in der er sich mehr als siebzehn Monate lang verschanzt hatte, als der Kieferchirurg mit einem buschartigen Bouquet aus Kirschblütenzweigen vor dem Gesicht, gefolgt von seiner Gattin, die sich offensichtlich gänzlich damit verausgabt hatte, ihren Mann zum Verlassen der Privatklinik zu überreden, ins Zimmer trat. Ohne ihre Tochter beglückwünscht zu haben, sank Birgit Zeger, allem Anschein nach am Ende ihrer Kraft, auf den nächstbesten Besuchersessel und verfolgte mit trüben Augen, was ihr geliebter Gatte, den sie vor der Neuguinea-Reise häufig als den Mann ihres Lebens bezeichnet hatte, da alles aufzog, um jedermann zu demonstrieren, dass er immer noch der gute alte Edwin sei.
Dass der Kieferchirurg seinen Auftritt in der Frauenklinik wie eine gealterte Diva ihr Comeback einstudiert haben musste, verriet schon die Aufmachung, mit der er sich im Verlauf seines Aufenthaltes in der psychiatrischen Abteilung, wo ihn außer den Psychopathen, den Selbstmordkandidaten, den Alkoholikern und den Heroinsüchtigen auch die Schwestern Dickerchen zu nennen pflegten, hatte ausstaffieren lassen. Das pechschwarze Kleidungsstück, das der Kieferchirurg als passend für einen Krankenbesuch zu erachten schien, hatte mit einem Mantel ebenso wenig gemein wie mit einem Paletot oder einem Trenchcoat. Es war vielmehr ein Mittelding zwischen einer Soutane und jenen Umhängen, in denen Vampire in Gruselfilmen nachtnächtlich ihren Särgen entsteigen.
Wer immer dieses pfäffisch-vampirhafte, pechschwarze Gewand zu Gesicht bekam, der musste sich angesichts seiner Wattierungen, Polster, Steppmuster, Biesen, Abnäher, Schlitze, Schlaufen und seiner nachgerade alttestamentarisch anmutenden Faltenwürfe ganz zwangsläufig fragen, ob der Schneider, der sich bereit gefunden hatte, ein solches Kleidungsstück anzufertigen, nicht gut daran getan hätte, sich wie sein Kunde einer psychiatrischen Behandlung zu unterziehen. Selbst wenn dieser Schneider beim Anfertigen des Gewandes nur den Wünschen des Kieferchirurgen nachgekommen wäre, hätte man an seinem Verstand zweifeln müssen. Denn mit dem pfäffisch-vampirhaften, pechschwarzen Kleidungsstück, in dem Doktor Edwin Zeger wie ein aufgepumptes Rumpelstilzchen wirkte, schnitt sich nicht allein der Kieferchirurg, sondern auch dessen Schneider ins eigene Fleisch.
Heiner fand zwar, dass man es dem Gewand ansah, wie viel Kopfzerbrechen es gekostet haben musste. Dennoch erschien ihm die Frage recht unerheblich, ob es der Kieferchirurg gewesen war, der den Schneider beschwatzt hatte, durch die Anfertigung eines solchen Kleidungsstückes mit seiner Berufsehre in der fahrlässigsten Weise Schindluder zu treiben, oder ob es der Schneider gewesen war, der den Kieferchirurgen beschwatzt hatte, ein Gewand, das ihn zum Gespött der Mitwelt machen musste, in Auftrag zu geben. Je genauer er die Wattierungen, Polster, Steppmuster, Biesen, Abnäher, Schlitze, Schlaufen und Faltenwürfe des Gewands seines Schwiegervaters in Augenschein nahm, umso mehr neigte Heiner zu der Ansicht, dass dieses mehr als nur exzentrische Kleidungsstück vermutlich nie entstanden wäre, wenn sich da nicht ein immer dicker werdender Kunde, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, um jeden Preis mager zu erscheinen, und ein Schneider, der aller Welt beweisen wollte, dass er fähig war, ein Gewand anzufertigen, das einen Fettwanst in ein Knochengerippe zu verwandeln mochte, zusammengetan hätten.
Soll das ein Mantel sein, was du da anhast, hörte er Dille ihren Vater fragen, der sich mittlerweile mit dem buschartigen Bouquet aus Kirschblütenzweigen dem Bett seiner Tochter genähert hatte.
Mantel ist wohl nicht das rechte Wort, erwiderte der Kieferchirurg mit einer schrillen Falsettstimme, die nicht nur Heiner durch Mark und Bein ging, und er fing, als wolle er hiermit den Heiterkeitsausbruch verhüten, den sein Anblick leicht hätte auslösen können, so schallend zu lachen an, dass von den Zweigens seines buschartigen Bouquets Kirschblüten auf das Bett seiner Tochter fielen.
So gib mir schon den Strauß, sagte diese fast gouvernantenhaft zu ihrem Vater, der ihr unverzüglich das Bouquet aushändigte, hinter dem er bislang sein Gesicht verborgen hatte.
Kinderchen, warum seid ihr denn so ernst, erkundigte er sich, indem er sich erst Regina Wurbs, dann Heinrich Wurbs und schließlich seinem Schwiegersohn Heiner zuwendete, der mit einer betretenen Miene vermerkte, dass der Kieferchirurg kaum mehr über die sich vor seinen Augäpfeln wölbenden Pausbacken hinwegschauen konnte.
So ernst sind wir nun auch wieder nicht, behauptete er und warf seiner Mutter einen hilfesuchenden Blick zu.
Wir freuen uns alle, dass du dermaßen fröhlich bist, meinte Regina Wurbs.
Ihr glaubt nicht, wie gut es mir getan hat, einmal völlig abzuschalten, sagte der Kieferchirurg.
Du siehst auch wirklich wohl aus, erwiderte Heiner, dem angesichts der Grübchen, die sich zwischen den Fingerwurzeln auf den Handrücken seines Schwiegervaters gebildet hatten, ein Kälteschauer durch den ganzen Körper rann.
Ich habe sogar ein paar Pfund zugenommen, gestand Doktor Edwin Zeger mit einem koketten Augenaufschlag seinem Schwiegersohn Heiner, der viel zu nachtragend war, als dass er dem Kieferchirurgen das Schicksal, das ihn im Busch von Neuguinea ereilt hatte, dadurch ertragen half, dass er ihm beteuerte, man merke es ihm nicht an, dass er seit jenem ominösen Unfall oder Racheakt wie ein Hefekloß aufgegangen war.
Dass du dünner geworden wärst, kann man beim besten Willen nicht behaupten, entgegnete er seinem Schwiegervater, dessen Fettwülste mit einemmal wie eine Götterspeise zu wabbeln begannen.
Obwohl außer dem Wabbeln dieser Fettwülste auch ein Zucken der Mundwinkel davon kundete, dass Doktor Edwin Zeger an sich halten musste, um nicht aus dem Krankenzimmer zu flüchten, blieb der Kieferchirurg, so mannhaft, wie es ihm unter den gegebenen Umständen nur möglich war, noch ganze fünf Minuten lang neben dem Bett seiner Tochter stehen, in dessen Umkreis sich eine bleischwer auf alle Anwesenden lastende Stille breitmachte, ehe er sich den ersehnten Abgang gestattete.
Haltet die Ohren steif, rief er den Anwesenden mit seiner schrillen Falsettstimme zu, raffte sein pfäffisch-vampirhaftes Gewand, dessen Faltenwürfe ihn leicht zu Fall hätten bringen können, mit beiden Händen hoch und rauschte, von dem Gewicht seines unförmigen Körpers bald ein wenig nach rechts, bald ein wenig nach links gezogen, gefolgt von seiner Gattin aus dem Zimmer.
Dass nach dem Abgang der Zegers weder Regina noch Heinrich Wurbs, geschweige denn Heiner oder Dille, auch nur ein Wort über die Fettmassen verloren, die wie türkischer Honig am Stecken an dem ehemals hageren Körper des Kieferchirurgen hafteten, war weniger auf ihr Taktgefühl als vielmehr auf die Peinlichkeit jenes Unfalls oder Racheakts zurückzuführen, dessen Auswirkungen selbst Heiners kühnste Mutmaßungen überboten. Jedenfalls stand es für ihn fest, dass Doktor Edwin Zeger den folgenschweren Unfall oder Racheakt allein durch seine Abenteuerlust provoziert hatte.

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Später……..

Nachdem sie mit der kleinen Martina aus der Frauenklinik heimgekehrt war, erkundigte sich Dille lediglich bei Heiner, ob er etwas dagegen einzuwenden hätte, wenn sie einmal in der Woche ihren Vater besuchte, der sich erneut in der psychiatrischen Abteilung der Privatklinik verschanzt hatte, wo er, der in den Operationssälen der kieferchirurgischen Klinik in N. eine geradezu göttergleiche Figur abgegeben hatte, ganz einfach das Dickerchen sein durfte.

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Später……..

Was Dille noch ärger als das sich ohne Sinn und Ziel mehrende Körpergewicht ihres Vaters zu schaffen machte, war die Tatsache, dass der Kieferchirurg neuerdings nicht einmal magerer zu werden wünschte.
Ich fühle mich in meinem Fett wie eine Made im Speck, sagte er zu Dille, die nach jedem Besuch der psychiatrischen Abteilung so zerrüttet war, dass Heiner sie stundenlang trösten musste.

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Später……..

Sobald ihm Dille beispielsweise berichtete, dass ihr Vater ein Transportunternehmen damit beauftragt hatte, aus seiner Villa drei Orientbrücken, einen Ohrensessel, ein Servierwägelchen, eine Stehlampe und eine Kiste voller Geschirr in sein Klinikzimmer zu befördern, wo er mit einem Heroinsüchtigen und einem Pyromanen, der unter anderem den Musikpavillon eines Kurparks in Brand gesteckt hatte, um die Schlaftabletten, Anti-Depressiva, Beruhigungsdragees und Aufputschpillen würfelte, die ein Schizophrener aus der Apotheke seiner Schwester entwendete, heuchelte Heiner lediglich Erschütterung. Insgeheim befriedigte es ihn zutiefst, dass der Kieferchirurg mit jedem Pfund, das er zunahm moralisch tiefer sank……..
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